Ich musste mich beeilen, denn die vierte Stunde war schon fast vorbei. Ich hatte völlig unterschätzt, wie lange es dauern würde zu entscheiden, aus welchem Holz mein Stab sein soll und ihn dann auch noch zu finden.
Ich kam ziemlich atemlos in der Töpferei an. „Ich dachte schon, du hättest vergessen, dass dein Kelch heute fertig wird“, begrüsste mich Mira. Ich erklärte ihr meine Verspätung und sie nickte. „Dein Stab ist genau wie dein Schwert und dein Becher ein wichtiges Werkzeug. Du hast recht getan, dir Zeit zu lassen, aber nun komm, dein Becher ist fertig.“
Auf einem hölzernen Tisch stand mein Becher. Einfach und wunderschön, mit einer blauen Glasur. Ohne Miras Hilfe hätte ich ihn nicht hinbekommen, aber ich war dennoch stolz auf mich. Ich nahm ihn vorsichtig in die Hand und betrachtete ihn von allen Seiten. Er war perfekt, so wie er war und die Farbe gefiel mir auch.

„Pass gut auf ihn auf, der erste Becher ist etwas Besonderes. Hier, nimm dieses Tuch und diesen Beutel. Dann ist er auch gut geschützt, wenn du unterwegs bist.“ Ich wickelte das Tuch sorgfältig um den Becher und packte in in den Beutel aus weichem Leder.
Ich umarmte Mira und bedankte mich ganz herzlich. „Ich habe dir gern geholfen“, lächelte Mira. „Eins noch: Vielleicht ist dir nicht die Spirale auf dem Boden aufgefallen, aber wenn du in deine Gefühle eintauchen willst, dann fahre mit dem Finger die Spirale entlang. Denke dabei daran, was du konkret über deine Gefühle erfahren möchtest, zum Beispiel woher sie kommen oder wie du mit ihnen umgehen kannst. Dann fülle ihn mit Wasser und trinke. Aber versuche nie etwas über die Gefühle von anderen herauszufinden. Probierst du das ein einziges Mal, verschwindet der Zauber und der Becher wird zu einem einfachen Trinkgefäss. Ich habe die Spirale bewusst auf der Unterseite angebracht, denn es muss ja nicht gleich jeder sehen, dass er magisch ist.“
Mira und ich verabschiedeten uns herzlich. Ich hängte mir den Beutel über die Schulter und steckte auch meinen Stab dazu.
Ich hatte noch etwas Zeit bis zum Abendessen und genoss den Spaziergang durch die Stadt.
Socks verschwand immer wieder mal zwischen den Ständen, aber ich machte mir keine Sorgen um den kleinen Kerl. Schliesslich war er hier aufgewachsen und kannte sich besser aus als ich. Ich hoffte nur, dass er nicht zu streng roch, wenn er von seinen kleinen Ausflügen wieder kam, denn er liebte es, bei mir im Bett zu schlafen und einen müffelnden Kater wollte ich nicht wirklich neben mir haben.
Irgendwie führten mich meine Füsse – oder war es doch meine Intuition – zu einem wunderschönen Tempel aus weissem Stein. Er erinnerte mich entfernt an einen griechischen Tempel, auch wenn mich die Kuppel ein wenig irritierte. Davor war ein Brunnen, in dem das Wasser fröhlich plätscherte.

Die Atmosphäre war ruhig, entspannt und so schön friedlich. Ich sah kaum Menschen, aber es war später Nachmittag und vielleicht waren sie alle schon auf dem Weg nach Hause, um sich auf das Abendessen vorzubereiten.
Ich steckte meine Hand ins Wasser und es war herrlich kühl.
Mir taten die Füsse ein wenig weh und ich konnte nicht widerstehen. Ich setzte mich auf den Rand, zog meine Schuhe aus und wollte gerade meine Füsse in das Wasser tauchen, da hörte ich ein Räuspern hinter mir.
Ich drehte mich um und ein älterer Mann sah mich streng an.
“Du willst doch nicht wirklich deine Füsse im heiligen Wasser waschen?” “Heiliges Wasser? Warum ist das Wasser heilig? Ich habe gesehen, dass Menschen sich an den Brunnen in der Stadt waschen oder mit einem Becher Wasser zum Trinken auffangen. In manchen Brunnen waschen sie sogar ihre Wäsche. Was ist denn hier an diesem Brunnen so Besonders?”
“Du bist nicht von hier, richtig? Dann wüsstest du, dass du gerade vor dem Tempel der Hohepriesterin bist. Dieser Brunnen ist geweiht. Nichts und niemand darf das Wasser verwenden oder gar verschmutzen. Nur zu den Jahreskreisfesten darf das Wasser entnommen werden.”
“Oh, du hast recht, ich bin tatsächlich nicht von hier und ich wusste das nicht. Es tut mir leid und natürlich respektiere ich, dass dieses Wasser heilig ist”, entschuldigte ich mich.
“Habt ihr, da wo du herkommst, keinen Tempel der Hohepriesterin?”, fragte der Mann erstaunt zurück. “Nein, ich komme von sehr weit her”, antwortete ich und hatte keine Lust zu erklären, wer ich war oder dass ich aus der Aussenwelt stammte. Er schüttelte den Kopf und hielt mich wohl für die grösste Ignorantin in Tarcania. Immerhin gab er sich mit meiner Antwort zufrieden und bohrte nicht weiter nach.
“Lass die Füsse aus dem Wasser und verschmutze es auch nicht mit deinen Händen”, ermahnte er mich noch, bevor er ging.
Ich seufzte und zog meine Schuhe wieder an. Wo war eigentlich Socks? Er hätte mich warnen können, statt sich irgendwo herumzutreiben. Ich muss zugeben, ich war ein wenig sauer, denn ich hätte fast ein Tabu hier gebrochen, von dem ich nichts wusste, nichts wissen konnte.
In Gedanken schimpfte ich “Socks, wo steckst du nur?!”
Wie aus dem Nichts tauchte der kleine Kater auf. “Oh, du hast den Tempel der Hohepriesterin entdeckt. Pass nur auf, das Wasser ist heilig und du darfst es nicht berühren.” “Ach nein, wirklich?”, zischte ich zurück. “Das hätte ich aber fast getan und ein Mann hat mich noch gerade davon abgehalten, diese Regel zu verletzen. Wenn du dich nicht herumgetrieben hättest, wäre ich nicht in diese peinliche Lage gekommen.” “Ist doch nichts passiert. Stell dich nicht so an. Ich bin ein Kater und brauche meine Freiheit”, entgegnete Socks halb vorwurfsvoll, halb gelangweilt.” Ich bin dein Seelenbegleiter, aber nicht dein Kindermädchen. Lass uns wieder in die Gilde zurückkehren. Ich habe Hunger.” Dachte dieser Kater tatsächlich immer nur an sich und ans Fressen?
Ich stand auf, zumal ich auch selbst hungrig war und schweigend gingen wir wieder zurück. Immerhin blieb Socks dieses Mal bei mir, statt sich wieder herumzutreiben.
Nach einem recht entspannten Abendessen verabschiedete ich mich und kehrte rasch in mein Zimmer zurück.
Natürlich wollte ich den Becher ausprobieren und erfahren, was wirklich meine Gefühle für Tarcania waren. Einerseits fand ich es absolut faszinierend, in diese neue Welt einzutauchen, aber ich hatte auch Angst davor zu versagen, den Ansprüchen an die Auserwählte nicht zu genügen. Wobei ich ja gar nicht wusste, welche Ansprüche an mit gestellt wurden, aber ein nagendes Gefühl in der Magengegend war dennoch da.
Ich fuhr mit meinem Finger über die Spirale und stellte mit meiner inneren Stimme die Frage: “Was empfinde ich für Tarcania?” Ich füllte den Becher mit Wasser und wiederholte intuitiv die Frage dabei mehrmals. Mit der letzten Wiederholung trank ich das Wasser aus und schloss die Augen.
Eine leise Stimme in mir flüsterte: “Tarcania ist die verlorene Heimat deiner Seele. Du hast es vergessen, aber du wirst dich erinnern. Lerne und du wirst Tarcania wieder lieben, so wie Tarcania dich liebt. Es wird Momente geben, in denen du zweifeln wirst, Momente, in denen du Angst haben wirst, wütend sein wirst oder verletzt. Das gehört dazu, aber du wirst geliebt und behütet, egal, was passiert.
Und Tarot wird dein Kompass auf deiner Reise durch Tarcania und durch deine Gefühle sein.”
Die Stimme verstummte und ich spürte, wie Tränen über mein Gesicht liefen. Ich nahm mir vor, zu vertrauen, dem Schicksal und vor allem mir selbst.

Kennst du eigentlich schon meine Tarot-Spickzettel?
Das erwartet dich:
- Einfache Übersichten: Alle wichtigen Bedeutungen der 78 Karten auf einen Blick.
- Zusätzliche Ressourcen: Ziffern, Symbole, Zuordnungen zu Elementen, Mondphasen und mehr.
- Exklusive Community: Zugang zu meiner kostenlosen Telegram-Gruppe mit Gleichgesinnten.
- Regelmässige Updates: Du gehörst zu den Ersten, die von meinen neuen Angeboten und Inhalten erfahren.
Sichere dir jetzt deine Spickzettel (0 €/CHF) im Austausch für deine Email-Adresse und beginne gleich, mit Tarot zu arbeiten.

- Tarot-Talk Episode 59: Kurze Tarot-Routine in 6 Schritten - 1.10.2025
- 12. Fast ein Fettnäpfchen - 19.09.2025
- Tarot-Talk Episode 58: Interview mit Kirsten Buchholzer - 17.09.2025